Sowohl die Begriffsbestimmung der Abmahnung als auch deren beschriebener Sinn und Zweck machen deutlich, dass eine Abmahnung grundsätzlich nur vor dem Ausspruch einer verhaltensbedingten Kündigung im Sinne des § 1 Abs. 2 KSchG in Betracht kommen kann. In seiner Person liegende oder durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingte Gründe kann der Arbeitnehmer im Regelfall nicht beeinflussen, so dass eine Abmahnung in den entsprechenden Fällen ihre Wirkung verfehlen würde. Deshalb ist eine Abmahnung des Arbeitnehmers wegen dessen krankheitsbedingter Fehlzeiten nicht gerechtfertigt. Auch in Fällen von unbehebbaren Leistungsmängeln infolge einer dauernden gesundheitlichen Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit kommt eine Abmahnung nicht in Betracht.

Praktische Konsequenz
Die Abgrenzung zwischen personen- und verhaltensbedingten Kündigungen kann allerdings mitunter schwierig sein, so dass es sich für den vorsichtigen Arbeitgeber empfiehlt, im Zweifelsfall vorsorglich eine Abmahnung auszusprechen.

Wird eine ordentliche Kündigung mit einem Sachverhalt begründet, der mehrere in § 1 Abs. 2 KSchG geregelte Gründe berührt (Kündigung wegen eines Mischtatbestandes), richtet sich der Prüfungsmaßstab in erster Linie danach, aus welchem der im Gesetz genannten Bereiche die Störung des Arbeitsverhältnisses kommt. Dies ist ausschlaggebend dafür, ob eine vorherige vergebliche Abmahnung Voraussetzung für die Wirksamkeit einer solchen Kündigung ist. Eine Abmahnung ist vor jeder verhaltensbedingten Kündigung zu prüfen. Die frühere Unterscheidung zwischen Störungen im Leistungsbereich einerseits und Störungen im Vertrauensbereich und betrieblichem Bereich andererseits ist weitestgehend überholt.

Praktische Konsequenz
Abmahnungen sind grundsätzlich nur vor verhaltensbedingten Kündigungen erforderlich.

In einer späteren Entscheidung hat das BAG – soweit ersichtlich – erstmals den Begriff „Störungen im Verhaltensbereich“ verwendet und dabei nochmals den Grundsatz bestätigt, dass ein Arbeitnehmer,
dem wegen eines nicht vertragsgerechten Verhaltens gekündigt werden soll, grundsätzlich zunächst abzumahnen ist. Dies gilt – so das BAG wörtlich – „insbesondere bei Störungen im Verhaltens und Leistungsbereich“. In weiteren Entscheidungen hat das BAG den Standpunkt vertreten, ein Fehlverhalten im Vertrauensbereich berechtige dann nicht ohne vorherige erfolglose Abmahnung zum Ausspruch einer Kündigung, wenn der Arbeitnehmer mit vertretbaren Gründen annehmen konnte, sein Verhalten sei nicht vertragswidrig oder werde vom Arbeitgeber zumindest nicht als ein erhebliches, den Bestand des Arbeitsverhältnisses gefährdendes Fehlverhalten angesehen.

Nach dem ultima-ratio-Prinzip kann eine Abmahnung dann erforderlich sein, wenn das zu beanstandende Verhalten den Vertrauensbereich tangiert. Voraussetzung hierfür ist, dass die Abmahnung zur Beseitigung der Störung und Verhinderung weiterer Störungen geeignet ist und das pflichtwidrige Verhalten die zur Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erforderliche Vertrauensgrundlage noch nicht zerrüttet oder nachhaltig gestört hat. Bei einer restlosen Zerstörung des Vertrauensverhältnisses bedarf es nach der zutreffenden Ansicht des LAG Nürnberg – anders als bei einer bloßen Störung – keiner der Kündigung vorausgehenden Abmahnung.

Beispiel
Typische Fälle von Störungen im Vertrauensbereich, die in der Regel keiner Abmahnung bedürfen, sind insbesondere strafbare Handlungen des Arbeitnehmers zum Nachteil des Arbeitgebers.

Die Unterscheidung zwischen Störungen im Leistungsbereich einerseits und Störungen im Vertrauensbereich andererseits ist durch spätere Entscheidungen des BAG23 noch schwieriger geworden und hat praktisch kaum noch rechtliche Bedeutung. Nach der neueren Rechtsprechung ist vor jeder Kündigung und damit auch vor einer verhaltensbedingten Kündigung, die auf einer Pflichtverletzung im Vertrauensbereich beruht, zu prüfen, ob eine Abmahnung erforderlich ist. Das BAG geht unter teilweiser Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung davon aus, dass auch bei Störungen im Vertrauensbereich jedenfalls dann vor der Kündigung eine Abmahnung erforderlich ist, wenn es um ein steuerbares Verhalten des Arbeitnehmers geht und eine Wiederherstellung des Vertrauens erwartet werden kann. Die Differenzierung nach verschiedenen Störbereichen sei nur von eingeschränktem Wert. Das Abmahnungserfordernis ist praktisch vor jeder beabsichtigten Kündigung zu prüfen.

Die Abmahnung dient nach der neuesten Rechtsprechung des BAG der Objektivierung der negativen Prognose. Eine solche liegt vor, wenn aus der konkreten Pflichtverletzung und der daraus resultierenden Vertragsstörung geschlossen werden kann, der Arbeitnehmer werde auch zukünftig den Arbeitsvertrag nach einer Kündigungsandrohung erneut in gleicher oder ähnlicher Weise verletzen. Deshalb setzt eine Kündigung wegen einer Vertragspflichtverletzung regelmäßig eine Abmahnung voraus. Die Entbehrlichkeit einer Abmahnung kann immer nur aufgrund aller Umstände des Einzelfalles, nicht aber aufgrund abstrakter, systematisierender Zuordnungen beurteilt werden. Natürlich gibt es nach wie vor Sachverhalte, bei denen der Arbeitgeber ohne vorherige Abmahnung sofort kündigen kann, etwa bei besonders schwerwiegenden Pflichtverletzungen des Arbeitnehmers.

Dieser Text stammt aus:

Die Abmahnung
Klaus Beckerle
Haufe Verlag, 10. Auflage 2009
244 Seiten mit CD-ROM. € 34,80 [D]

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit verwenden wir die männliche Form (generisches Maskulinum), z. B. „der Mitarbeiter“. Wir meinen immer alle Geschlechter im Sinne der Gleichbehandlung. Die verkürzte Sprachform hat redaktionelle Gründe und ist wertfrei.